Ein Portrait über einen Menschen zu schreiben, der bereits verstorben ist, ist eine große Herausforderung – lebt die Beschreibung eines Menschen und seines Schaffens doch von der Greifbarkeit der dargestellten Person. Was Ludwig Mies van der Rohe betrifft, existiert neben seinen raren öffentlichen Stellungsnahmen ein vergleichsweise großer Schatz an Zeugnissen über seine Person, die seine Kollegen und seine eigene Tochter hinterlassen haben. Aus diesen speist sich ein Bild von „Mies“, das vor allem drei Attribute kennzeichnen: Eigensinn, Exzentrik und eine unbändige Schaffenskraft.

 

Die wenigen in Bild und Ton erhaltenen Interviews zeigen Ludwig Mies van der Rohe als einen ruhigen Mann fortgeschrittenen Alters mit traurigen dunklen Augen, darunter dicke Tränensäcke. Dieser großgewachsene, leicht übergewichtige Mann sieht nicht aus wie der typische progressive Denker. Als Zigarre rauchender Anzugträger weckt er eher Assoziationen zu Politikern wie Winston Churchill oder Helmut Schmidt. Doch sobald er den ihm gestellten Interviewfragen eines amerikanischen Reporters mit seiner tiefen knarzigen Stimme und breitem deutschen Akzent antwortet, tritt der eigenwillige Architekt sofort zutage: Dieser Mann weiß, wovon er spricht und ist überzeugt von der Relevanz seiner Ansichten. Van der Rohe strahlt eine Kompetenz, ein Bewusstsein für sein Fachgebiet aus, die den Zuhörer jedes Wort aufsaugen und verinnerlichen lassen.

Geboren wurde der spätere Visionär Maria Ludwig Michael Mies als jüngstes Kind des Steinmetzmeisters Michael Mies und seiner Frau Amalie am 27. März 1886 in Aachen. Nachdem er als Jugendlicher im Betrieb seiner Eltern ausgeholfen hatte, absolvierte er zunächst eine Maurerlehre. Dank seines zeichnerischen Talents erhielt Mies Junior bald seine erste Festanstellung – ironischerweise als Zeichner für Stuckornamente. Schnell jedoch bekam er die Möglichkeit, sich Arbeiten zu widmen, die seine späteren Werke nachhaltig beeinflussen würden. Nachdem er zunächst einige Jahre als Möbelzeichner bei dem bedeutenden Architekten und Designer Bruno Paul gearbeitet hatte, wechselte Ludwig Mies zu dem renommierten Industriedesigner Peter Behrens, wo er in die Umsetzung wichtiger Großprojekte involviert war. Behrens, selbst einer der Visionäre seiner Zeit, verschaffte seinem Schützling wichtige Kontakte, die ihm den Einstieg ins selbstständige Berufsleben erleichtern sollten. Mit 27 heiratete Ludwig Mies die Fabrikantentochter Adele Auguste Bruhn und eröffnete ein Architekturbüro in Berlin. Die Ehe, aus der drei Töchter hervorgingen, hielt nur acht Jahre. Die Älteste, Georgia, gab in ihrer Autobiografie tiefe Einblicke in das Familienleben der van der Rohes und offenbarte die Unfähigkeit des gefeierten Architekten, ihr und ihren zwei Schwestern ein liebender und vor allem präsenter Vater zu sein. Während seiner Ehejahre unterhielt Mies mehrere Affären, unter anderem zu der ebenfalls renommierten Innenarchitektin und Designern Lilly Reich, mit der er häufig beruflich kooperierte.

Nach seiner Scheidung agierte Ludwig Mies nicht mehr unter seinem Geburtsnamen, sondern legte sich den heute bekannten Künstlernamen zu, der eine Zusammenfügung aus der niederländischen Herleitung „van der“ und dem Geburtsnamen seiner Mutter, „Rohe“, enthält. Spätestens ab diesem Zeitpunkt widmete sich der arbeitsbesessene Architekt voll und ganz seiner Vision einer neuen Architektur. „Baukunst“, so formulierte es Mies van der Rohe selbst, „ist die räumliche Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt und der Ausdruck dafür, wie er sich darin behauptet und wie er sie zu meistern versteht.“ Schnell war Mies Teil mehrerer Interessensgemeinschaften mit anderen Künstlern, Architekten und Designern, die sich gemeinsam für das Umdenken in der Szene einsetzten. Nachdem er bereits mehrere progressive Bauten wie Haus Ryder in Wiesbaden oder die Weißenhof-Siedlung in Stuttgart realisiert hatte, wurde er 1929 einberufen, gemeinsam mit Lilly Reich den deutschen Beitrag zur Weltausstellung in Barcelona beizusteuern. Hier entstand der berühmte „Barcelona-Pavillon“ samt Inventar, der als eines der bedeutendsten Werke moderner Architektur gilt. Mit diesem Bau perfektionierte der Querdenker seine Philosophie der Grenzverschmelzung zwischen Innen und Außen. Keiner der „Räume“ des Pavillons ist vollständig durch vier Wände abgeschlossen, offene Blickachsen und Durchgänge machen den Bau durchlässig und vielseitig – ein absolutes Novum. Im selben Jahr wurden anhand seiner Entwürfe die Wohnhäuser für die VerSeidAG-Direktoren Hermann Lange und Josef Esters erbaut. Auch hier wollte der Architekt ursprünglich radikal das Konzept der fließenden Räume umsetzen. Auf Wunsch der Auftraggeber musste er davon jedoch Abstand nehmen und die Häuser teils mit geschlossenen Räumen ausstatten.

„BAUKUNST“, SO FORMULIERTE ES MIES VAN DER ROHE, „IST DIE RÄUMLICHE AUSEINANDERSETZUNG DES MENSCHEN MIT SEINER UMWELT UND DER AUSDRUCK DAFÜR,WIE ER SICH DARIN BEHAUPTET UND WIE ER SIE ZU MEISTERN VERSTEHT.“

Während seiner selbstständigen Berufsjahre pflegte Ludwig Mies van der Rohe exzentrische Eigenarten. Er war als Nachteule bekannt, erst ab dem späten Mittag bereit, seinen Arbeitstag zu beginnen. Oft setzte er sich erst gen Abend an den Schreibtisch und brütete dann die gesamte Nacht über seiner Arbeit, ausgestattet mit Zigarre und Whiskey. Einen Zeitgeist zu treffen oder einer populären vergänglichen Vorliebe gerecht zu werden, gehörte nie zu seinen Anliegen. „Ich will nicht interessant sein. Ich will gut sein“, gab er einst in einem Interview zu Protokoll.

Ludwig Mies erkrankte im Alter an Speiseröhrenkrebs und verstarb 1969 mit 88 Jahren in Chicago, wo er ab 1938 lebte und arbeitete. Arthur Drexler, Leiter der Abteilung Architektur und Design des Museum of Modern Art in New York, sagte in einem Fernsehinterview über Mies: „Er war überzeugt, dass er Architektur erschuf, die zeitlos sein würde. Und die niemals veraltet oder albern wirken würde wie das Produkt einer trivialen Beschäftigung. Ich denke, dass er Recht hatte.“ Mies’ künstlerisches Erbe beeinflusste nachhaltig die folgenden Generationen von Architekten. Die von ihm geprägte offene und durchlässige Gebäude-Optik wird noch heute vielerorts aufgegriffen, und der von ihm verbreitete Grundsatz „weniger ist mehr“ gehört zu den geflügelten Begriffen des Minimalismus.