Kolumne Wojtek Honnefelder
Das Kiefergelenk ist das komplexeste Gelenk in unserem Körper. Dank seines ausgeklügelten Aufbaus stehen ihm alle Freiheitsgrade zur Verfügung. Doch das Kiefergelenk ist nicht zuletzt wegen seiner filigranen Mechanik und der direkten Verbindung zu Schädel, Nacken und Rücken oft eine neuralgische Stelle. Kiefergelenksbeschwerden, zusammengefasst unter dem Kürzel CMD, können auf- oder absteigend sein, stressinduziert und muskulären oder orthopädischen Ursprungs. In der Regel sind sie multifaktoriell. Wenn man sich die Kiefergelenkstherapie als ein Reglerpult vorstellt, kann ich als Zahnarzt nur an wenigen Knöpfen drehen. Den zentralen Ansatz bildet dabei die sogenannte „Knirscherschiene“, die primär die Aufgabe erfüllt, den problematischen „Biss“ zu lösen und den Kiefer in die Position zu bringen, in der er sich wohlfühlt. Wer selbst betroffen ist oder sich einmal mit dieser Thematik beschäftigt hat, wird festgestellt haben, dass die Kosten dafür bisweilen extrem variieren – von der nicht zuzahlungspflichtigen Kassenleistung bis zur 2.500 Euro-Versorgung. Doch warum ist das so?
Zunächst einmal existieren bei der CMD-Therapie keine offiziellen Standards. Deswegen hat sich rund um dieses Thema eine regelrechte Industrie entwickelt, die mit mehr oder weniger wirksamen und sinnvollen Methoden versucht, einen neuen Standard zu definieren und zu etablieren. So unterschiedlich diese Systeme auch sein mögen, sie alle eint die Tatsache, aufwendig und kostspielig zu sein. Oft gehen sie mit computergestützten Messverfahren einher, um die Zentrik des Kiefers zu finden. Das ist nicht per se schlecht, aber in der Regel wird dabei mit Kanonen auf Spatzen geschossen. Denn: Aufwendig geht immer, vor allem immer noch. Das heißt, ganz vielen „alltäglichen“ Kiefergelenksbeschwerden kann mit einer Standardschiene in Kombination mit einer zielgerichteten Physiotherapie entgegengewirkt werden.
Sollte dieser Ansatz keinen Erfolg erzielen, können immer noch weitere Maßnahmen erfolgen. Doch auch dann ist der Einsatz hochkomplexer Computertechnik in vielen Fällen unnötig, denn auch das aufwendigste Verfahren führt lediglich zum gleichen Ergebnis, welches bereits 1864 vom Amerikanischen Zahnarzt William Gibson Arlington Bonwill angestrebt wurde: eine stabile Bissposition in der Zentrik. In unserer Praxis erreichen wir dies frei nach meinem Motto: „Immer nur so viel wie nötig und dabei so wenig wie möglich.“ In Kooperation mit einem spezialisierten Physiotherapeuten wird die Kaumuskulatur des Patienten zuerst entspannt, dann wird durch die lockere Muskulatur die Zentrik vom eigenen Körper vorgegeben. Eine Vermessung des Schädels mit dem sogenannten Gesichtsbogen bildet eine anerkannte und ausreichend sichere Grundlage. Die Zentrik wird durch eine Handbissnahme oder ein Stützstiftregistrat bestimmt. Wichtig ist dann die Arbeit des Zahntechnikers, der die Schiene (die dann Michigan-Schiene heißt) in der Front-Eckzahnführung einstellt, um die Kiefergelenke zu entlasten. Aus unserer Erfahrung lassen sich damit circa 80 Prozent der Beschwerdebilder gut behandeln. Auch wenn ich mich wiederhole: die computergestützten Verfahren sind gut und haben Vorteile in der Sicherung und Reproduzierbarkeit der Ergebnisse. Besonders wenn großer und aufwendiger Zahnersatz angefertigt wird, ist eine computergestützte Vermessung ein guter Weg.
Wird ein Kiefergelenk-Patient allerdings durch den Einsatz einer Michigan-Schiene wider Erwarten nicht beschwerdefrei, ist das interdisziplinär vernetzte Arbeiten mit Radiologen, Orthopäden, Physiotherapeuten, Ernährungsberatern und sogar Psychotherapeuten deutlich wichtiger als eine computergestützte Funktionsanalyse. Entscheidend ist für mich, möglichst viele Knöpfe auf dem Reglerpult abzudecken und dabei mit möglichst geringem Aufwand das bestmögliche Ergebnis zu erzielen.