Unsere Redakteurin Ann-Katrin Roscheck erzählt.
Es ist der 19. September 2016. Ein Datum, das sich mir wortwörtlich für immer in die Seele gebrannt hat. Ich liege in einem Stockbett in einem Frauenschlafsaal in Malta und bin gerade aufgewacht. Die langen Vorhänge wehen in das spärlich eingerichtete Zimmer, der Ventilator wirbelt die schlafgetränkte Luft durcheinander, und über mir dreht sich eine Japanerin lautstark auf ihrer Matratze noch einmal um. In morgendlicher Trance scrolle ich durch Facebook, eher in der Routine als um wirklich aufmerksam Beiträge zu verfolgen, aber auf einmal bleibt mein Finger liegen. Er ruht auf einem Foto eines Hauses auf dem Ostwall. Meines Hauses, bzw. das, in dem ich seit 20 Jahren wohne. Ich kann mein Schlafzimmer erkennen. Aus den Fenstern darunter schlagen große Flammen hervor, der Dachstuhl ist rußgeschwärzt, und Feuerwehrautos stehen Kolonne. Im gleichen Moment stehe ich aufrecht im Zimmer. Das schrille Schreien in meinem Kopf ist unerträglich. Es nimmt mir den klaren Blick und nimmt mich gleichzeitig komplett ein. Aber es hat erst die Hälfte seiner Lautstärke erreicht – das werde ich einige Wochen später erfahren. Und genauso, wie es mir schadet, tut es mir auch gut. Aber auch das kann ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht verstehen.
Mein Leben war immer schon in festen Bahnen: In einer Reihenhaussiedlung im ländlichen Krefeld-Oppum mit zwei Brüdern und Lehrern als Eltern aufgewachsen, war für mich klar, dass ich nach dem Abitur zur Uni gehe. Etwas unkonventionell war vielleicht die Entscheidung, parallel zum Studium beim Radio die praktische, redaktionelle Arbeit zu lernen, um Journalistin zu werden, aber auch diesen kleinen Schock hatten meine Eltern schnell überwunden. Erstaunt und stolz waren wir alle gleichermaßen, als ich noch während des Studiums eine Stelle als leitende Fundraiserin und Mitarbeiterin für Öffentlichkeitsarbeit bei den zweitgrößten Kinderdörfern in Deutschland bekam: Natürlich stand für mich nie außer Frage, diese Stelle anzunehmen. In den Kinderdörfern liebte ich das, was ich tat. Ich war glücklich, meine Freunde im Blauen Engel auf einen Salat zu treffen, besuchte als Fan der Krefelder Kulturszene regelmäßig die Kulturfabrik und zog mit meinem Langzeitfreund aus meiner zweiten eigenen Wohnung in eine Vier-Zimmer-Wohnung am Ostwall, die ich natürlich wie auf den Hochglanzbildchen eines Interieurmagazins einrichtete.
Es war nach drei Jahren als Pressesprecherin, im Frühjahr 2016, als die kleine Stimme in meinem Kopf zum ersten Mal anfing, sich leise, zu melden. Mein Freund war gerade nach Australien abgereist, um hier seinem Jugendtraum, einem Auslandsaufenthalt, nachzugehen. „Soll das wirklich alles sein?“, neckte mich die Stimme in meinem Kopf scharf. „Bleibst du jetzt die nächsten 40 Jahre in deinem Job, bekommst dann Kinder und hast ’ne schicke Wohnung? Ist da nicht noch mehr?“ Ärgerlich wischte ich die Worte weg, konnte aber nicht ändern, dass sie in den nächsten Wochen immer wieder – gerade in ruhigen Momenten – in meinem Kopf für Aufruhr sorgen sollten. Und gegen meinen Willen und von den Eindrücken der Erlebnisse meines Partners in Australien gestärkt, wurden sie langsam lauter.
Es sollte ein Test sein, die Überprüfung, ob ich die Stimme in meinem Kopf nicht ganz einfach ersticken könne: Ich beschloss, eine Reise alleine zu unternehmen. Eine Woche Malta hatte ich mir ausgesucht. Am Flughafen musste ich schlucken. Ein mulmiges Gefühl begleitete die Tatsache, dass ich mich aus meiner Komfortzone herausbewegte: Ich bin immer schon viel gereist, war auf Bali und in den USA, kenne Italien und fühle mich in Griechenland zuhause, aber eine Reise ganz alleine war doch etwas völlig Neues. Aber: Wer nicht wagt, kann nicht gewinnen.
Nun stehe ich also 2.500 Kilometer entfernt, weit weg von meiner Komfortzone, mit der furchtbar lauten Stimme in meinem Kopf im Hostelzimmer auf Malta, halte mein Handy in der Hand und werde mir über das bewusst, was in Krefeld passiert. Gering sei der Schaden an unserer Wohnung, sehe ich doch nur Flammen im zweiten Geschoss, rede ich mir ein. Doch zurück in Krefeld, bekomme ich die Kraft des Feuers zu spüren: Rauch und Asche haben alles, was sich in den vier Zimmern befindet, völlig zerstört. Die gute Nachricht: Niemand ist verletzt. Ein Wunder, denn das gesamte Treppenhaus ist von den Flammen völlig heruntergebrannt. Noch gutgläubig versichere ich mir: „Das wird sich schon alles regeln, wir sind ja versichert.“ Aber vier Monate später hat das Schreien in meinem Kopf eine enorme Dezibelanzahl erreicht: Recht ist nicht gleich gerecht. Für den großen Wert, den ich verloren habe, überweist die Versicherung eine mickrige Summe.
Ein Anruf von meinem Arzt, zwei Tage später, mit der Information, dass bei einer Routinekontrolle etwas Auffälliges festgestellt worden sei, bringen meine inneren Scheiben zum Zerbersten: Laut, eindringlich und unausweichlich wird die schrille Stimme zum unerträglichen Fiepen und drängt mich auf den Boden. Und dann ist es erstmal still.
Es gibt Momente im Leben, da glaubt man, dass alles schiefgeht. Mit 26 Jahren zu begreifen, dass man sein Hab und Gut verloren hat und sich nicht sicher ist, ob man nicht ernsthaft erkrankt ist, ist für einen jungen Menschen auf jeden Fall einer davon. Einige Wochen bleibe ich liegen. Ich gehe arbeiten, ich treffe Freunde, ich versuche, die Routine zu halten. Mein Kopf tut weh: Die Folgen des Fiepens machen mich schwach. Und dann frage ich mich auf einmal: „Was ist, wenn die Stimme in deinem Kopf einen Grund hatte? Was ist, wenn sie dich nicht aggressiv angeschrien hat, sondern dir wirklich einen Rat geben wollte? Was ist, wenn es so etwas wie Bestimmung gibt und das Feuer dir den Weg weisen will? Was ist, wenn sich aus der Asche auch ein Phoenix nähren kann?“ Ich spreche mit meinem Arbeitgeber, lasse mich drei Monate freistellen und buche einen Flug nach Neuseeland.
Das ist nun 18 Monate her. Im Februar 2017 beginne ich eine Reise, die mich fesselt und grundlegend verändert. Mit 20 Litern auf dem Rücken verlasse ich Deutschland, und mit einem tonnenschweren Erinnerungsbuch bin ich bis heute nicht wirklich zurückgekehrt. Allein begebe ich mich auf die Spuren der Maori in Neuseeland: Ein Campervan bringt mich an die wunderschönsten Plätze des unglaublichen Landes. Ich wandere in 1.600 Höhenmetern durch Mordor, beginne meine Tage mit Bädern in glasklaren Bergseen, und „in the middle of nowhere“, irgendwo in Neuseeland, repariere ich ohne Handynetz mein Auto. Ich schnabuliere mich durch vietnamesische Märkte, tanze mit Kindern auf den Philippinen, liege nachts stundenlang wach, um die Pinguine auf ihrem Weg zum Wasser in Tasmanien zu beobachten, schlendere alleine durch die Straßen von New York und ich weine, als ich den Spuren der schwarzen Geschichte in Kambodscha folge und die Massengräber besuche.
Ja, Kambodscha: Ein Land, das mich wie kein anderes geprägt hat. Hier treffe ich auf meinen Freund. Zwei Monate leben wir mit anderen jungen Menschen aus der ganzen Welt in einer Bambushütte zusammen und tauchen tief in die Kultur des Landes ein, das die Roten Khmer erst in den 80er Jahren mit rund zwei Millionen Toten freigegeben haben. Auf engstem Raum und unter menschenunwürdigen Verhältnissen leben Familien hier in aus Müll gebauten Hütten mit Wellblechdächern und Betten, die aus harten Holzplatten bestehen. Und doch: Trotz der Armut, trotz der Korruption und trotz der rabenschwarzen Geschichte des Landes treffe ich auf Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und eine positive Einstellung zum Leben. Ich schäme mich schon fast, dass mich ein Feuer in meiner Luxuswelt so aus der Fassung gebracht hat.
Mein Partner und ich möchten mit anpacken, wir helfen in einem sozialen Projekt mit: AllKids Cambodia versucht Kinder über die Bildung eine Chance auf eine Zukunft außerhalb der Armut zu geben. Jeden Tag holen Helfer Kinder von ihrem Zuhause auf Müllkippen mit alkoholkranken Eltern ab, versorgen sie, bringen sie zur Schule, veranstalten Kultur- und Sportangebote am Nachmittag und fahren sie wieder heim. Wir initiieren Beach-Clean-ups und versuchen, Einheimischen zu erklären, mit Müll zu wirtschaften. Wir beginnen, die Kultur der Menschen zu verstehen und helfen, am Wochenende Schwimmkurse für Kinder zu geben. Das Leben hier inspiriert uns. Wir möchten unsere deutsche Welt mit der Welt, die wir hier erleben, verknüpfen.
Im Sommer 2018 kehren wir mit einer Idee nach Krefeld zurück: Über den Verkauf von wunderschönen, handgemachten Kokosnussschalen, die fair und organisch in Asien hergestellt werden, möchten wir lokale Hersteller stärken und gleichzeitig unsere Geschichte in Deutschland erzählen. Für jede verkaufte Kokosnussschale überweisen wir außerdem eine Spende an das AllKids-Projekt. Ab Mitte November werden wir im Kreativdorf des Krefelder Weihnachtsmarktes stehen: „Makapli – Geschenke aus aller Welt“ ist unser Label und unser Sprachrohr zugleich. Ich bin ich mir inzwischen sicher darüber, dass mir mein eigener Mut, die Richtung zu wechseln, etwas Wertvolleres geschenkt hat als meine modern eingerichtete Wohnung und mein erfolgreicher Job es jemals gekonnt hätten. Davon möchte ich mithilfe von Makapli anderen Menschen erzählen: Das, was wichtig ist, finden wir nicht in unserem Wohnzimmerschrank, unserer Schreibtischschublade oder im Handschuhfach unseres schicken Autos, sondern es liegt in uns. In unserer Möglichkeit, jeden Tag offen auf Menschen zuzugehen, Freundschaften zu schließen, die unglaubliche Natur der Welt zu entdecken und all das in unserem Herzen für immer zu speichern. Dafür braucht es keine Asche, dafür braucht es nur den Mut, sein eigener Phoenix zu sein.
Regelmäßig bloggt Ann-Katrin Roscheck auf der Webseite ihres Labels „Makapli“ über ihre Reisen. Auf der Seite erfahren Sie auch, wie Sie die Deko-Kokosnussschalen erwerben können: www.makapli.de