In Traar lebt ein echtes Künstler-Original: der Maler Will Cassel. Wer ihn besucht, taucht in eine Welt ein, in der man sich mit kindlicher Intuition am besten zurecht findet. Nicht umsonst bezieht Cassel seine Inspiration von einer besonderen Figur: dem Gartenzwerg.
Leise kratzt der grüne Wachsmalstift über die Leinwand. Unruhig huscht er hin und her, von einer Ecke in die andere, wieder zurück. Mal kratzt er lauter, energischer, dann wieder leiser. Bis das Kratzen erstirbt. Bis es still wird im Raum. Stille. Nur das Ticken der Wanduhr ist zu hören. Mit einer schnellen Bewegung legt Will Cassel den grünen Stift zurück in ein Kästchen mit lauter anderen Wachsmalstiften. Fischt jetzt einen gelben heraus, lässt diesen erneut über die Leinwand huschen. Will Cassel, 88, der berühmte Kunstmaler aus Krefeld-Traar: ihm bei seiner Arbeit zuzusehen, entfaltet eine Atmosphäre, die man selbst erlebt haben muss, um ihre Eigenart zu erfassen. Vermutlich liegt es an der Haltung Will Cassels, mit der er sich seinen Bildern widmet, auf den ersten Blick banal, auf den zweiten genial: „Ich denke nicht. Ich male.“
Ein Nachmittag im Oktober in Traar, wir sind zu Besuch bei einem echten Künstler-Original: Will Cassel. Seit 1934 lebt der gebürtige Dortmunder in Krefeld, seit 1959 wohnt er mit seiner heute 81-jähigen Frau Siegrun am Kuhdyk in einem denkmalgeschützten Fachwerkhaus, das erbaut wurde von dem berühmten Krefelder Architekten Karl Buschhüter, sein spitz zulaufendes Dach eigenwillig in den Himmel reckt. Draußen nieselt es, das Tageslicht verliert bereits an Kraft, aber Cassel bekommt von dieser Trübnis nichts mit. Denn gerade arbeitet er in seinem Atelier vor unseren Augen an einem neuen Bild und scheint dabei wie in einer anderen Welt; umso geehrter fühlen wir uns, dabei sein zu dürfen. Aber Cassel war vom ersten Moment an ein Künstler zum Anfassen. Freudig hat er vorhin die Tür geöffnet, die Arme lächelnd ausgebreitet. Halblange graue Haare umgeben sein Gesicht mit den spitzbübisch funkelnden Augen, um den Hals baumeln drei von ihm präparierte Taschenuhren, sein Markenzeichen. In einem der Zeitmesser befindet sich eine winzige Gartenzwerg-Figur. Der Gartenzwerg war und ist Cassels Hauptinspiration: 1967 hat er das spitzbärtige Männchen für sich als „Kampfobjekt gegen Bürgerbevormundung“ auserkoren, das aus seiner Sicht im Arbeitergarten still protestierte gegen die Obrigkeiten des Lebens; auf zahlreiche Bilder bannte er den grinsenden Wicht, goss ihn zur Gipsfigur. „Der Gartenzwerg steht für einen Freiheitsbegriff und als Abstraktion für das Sein. Kunst kann man nicht lehren. Kunst ist keine feste Größe, sie verändert sich natürlich. Die Welt spielt immer weiter ihr Welttheater.“ Vergeistigte Sätze wie diese sprudeln aus Cassel mal eben so heraus, überfluten den normalsterblichen Zuhörer, der schnell merkt: Die Welt Cassels ist so eigen, dass man ihr als Außenstehender nicht verkopft begegnen darf. Weil auch der Künstler selbst seine Werke vor allem aus seinem ganz persönlichen Bauchgefühl heraus erschafft, mitunter scharf gewürzt mit einer guten Prise Intellektualität und Zynismus, gleichzeitig impulsiv, gekonnt naiv. Deshalb sollte man sich ihm und seiner Arbeit intuitiv näheren, wie ein Kind in Erwachsenenverkleidung. Denn ein solches ist auch Cassel in seinem Herzen geblieben, selbst wenn er schon auf so viele Lebensjahre zurückblickt.
Geboren wurde er am 25. August 1927 in Dortmund, bevor er mit sieben Jahren mit seinen Eltern in die Seidenstadt übersiedelte. Sein Vater war Polizist, „vielleicht ist mir der Freiheitsbegriff deshalb so wichtig: weil ich aus einem Beamtenhaushalt komme“, merkt Cassel schelmisch an, wenn die Rede auf sein Elternhaus kommt. Von 1943 wie 1948 besuchte er die Werkkunstschule Krefeld, studierte danach in Italien, wirkte von 1966 bis 1972 als Dozent an der Schule für Textile Künste Krefeld, lehrte bis 1980 an den Gesamthochschulen in Dortmund und Essen; vier Kinder zog Cassel mit seiner Ehefrau groß. Seine Auseinandersetzung mit seinem Leitthema Ordnung und Freiheit schlug sich anfangs hauptsächlich abstrakt nieder, etwa als Öl auf Leinwand, auf der wilde Farbkleckse auf Quadrate oder Kreise treffen; ältere Arbeiten wie diese kann man in Cassels Museum bestaunen, das er in der obersten Etage seines Hauses untergebracht hat. Nachdem er Ende der Sechziger das Freiheitsthema auf den Gartenzwerg projizierte, begann seine Arbeit gegenständlicher zu werden. Nahbarer. So postierte er Ende der 60er deutschlandweit weiße Gipszwerge auf öffentlichen Plätzen, als Protest gegen Umweltzerstörung, weitete den künstlerischen Zwergenaufstand sogar aus bis nach Washington vors Weiße Haus oder die UNO in New York. 1962 erhielt er den Kunstpreis der Stadt Krefeld und des Niederrheins, 1977 den Internationalen Kunstpreis Prix Joan Miró, Barcelona, 2011 das Krefelder Stadtsiegel für seine langjährigen Verdienste als Künstler, als der er nicht nur Bilder gestaltete, sondern auch Poster, Postkarten, Tücher.
Beim Gang über die knarrenden Holzböden seines Ateliers entdeckt man eines seiner jüngsten Bilder, die zerstörten Twin-Tower New Yorks. „Die Welt ist ein Labor“ hat Cassel auf das Bild geschrieben; durch seine kantigen Formen, die aggressiven Farben, vor allem aber durch Cassels Kommentar auf dem Bild spiegelt das Werk eine düstere Weltsicht. Aber ein Blick zur Wand gegenüber auf ein Stilleben roter Äpfel in Aquarell macht klar, dass der Künstler in keine Schublade passt. Nicht passen will. Denn auch das kann und mag Cassel: ein einfaches Stilleben malen – das Große im Kleinen sehen. Das trainiert er täglich. „Um 9 Uhr stehe ich auf, gegen 10.45 Uhr nehme ich den Bus in die Stadt. Ich muss jeden Tag in die Stadt, ich mag Menschen, ich muss immer unter Menschen. In der Stadt trinke ich meinen Kaffee bei Tchibo, dann drehe ich meine Runde, beobachte die Menschen. Dann fahre ich wieder mit dem Bus nach Hause, danach gibt es Mittagessen und, ganz wichtig, ein Mittagsschläfchen.“ Und danach: geht Cassel ins Erdgeschoss, in sein Atelier. Denkt nicht. Malt. Lässt den Wachsmalstift über die Leinwand kratzen, huschen. Solange, bis er spürt, dass er sich wieder „um die Realität kümmern“ muss: „So ist das Spiel“. Zum Glück für ihn eines ohne wirkliche Regeln.
Will Cassel, Am Kuhdyk 20, 47802 Krefeld, www.will-cassel.de
Die nächste Ausstellung in Cassels Atelier, „Kommen und Gehen im Weltlabor“, wird am 6. Dezember um 11.30 Uhr eröffnet. Am 13. und 20. Dezember, jeweils von 12 bis 14 Uhr, lädt Cassel zu Führungen ein