Erst, wenn wir den Mut haben, unsere eigenen Geschichten zu formulieren und aus den gewohnten Alltagsstrukturen auszubrechen, dann haben wir die Chance, abzuheben und alles zu gewinnen. Das singt Mark Forster in seinem Song „Wir sind groß“ in die Welt hinaus. Die Song-Zeile „Wir können das Buch selber schreiben“ prangt auch an der Wand des Hülser Türmchens an der Cäcilienstraße. Die Sozialpädagogen Anna Ladara und Jochen Scheller geben hier das Steuer aus der Hand und überlassen die Verantwortung denjenigen, die hier zuhause sind: Die Kinder und Jugendlichen selbst bestimmen im außergewöhnlichen Jugendzentrum ihr eigenes Programm und zeigen damit, dass Vertrauen die Basis dafür bietet, etwas Großes zu schaffen.

Die Kinder eigenbestimmt ihre Ideen umsetzen zu lassen, haben sich Anna Ladara und Jochen Scheller zur Aufgabe gemacht
Über 30 Jahre ist es her, dass das Hülser Türmchen zum „Jugendzentrum Am Wasserturm“ umgewandelt wurde. Schon damals erlebt es eine besondere Initiative: Denn nicht etwa die Kirche oder die Stadt setzen sich dafür ein, dass hier ein Treffpunkt für Jugendliche entsteht, sondern die Hülser selbst gründen einen Verein, der die Basis für ein Jugendzentrum schaffen soll. „Die aufmerksamen Hülser beobachteten, dass es junge Menschen gab, die durch andere Angebote einfach nicht gefangen wurden“, erinnert sich Scheller als Zugezogener. „Die Jungs kifften vor der Türe und wussten nichts mit sich anzufangen. Genau denen wollte man hier einen Raum schaffen.“ Unter der Initiative von Christoph Grüthers und Harald Kaysers wird das ehemalige Schwimmbad umgebaut: Die alten Badewannen weichen Küchenmöbeln, die Waschräume werden zur Tanzfläche, und aus den Umkleidekabinen entstehen Aufenthaltsräume und ein Büro. Als erster Honorarmit-arbeiter integriert Dieter „Pico“ Breitfeld den neuen Treffpunkt in der Nachbarschaft und hört schon damals auf das, was sich die Heranwachsenden wünschen: Schnell ist die wöchentliche Disco Treffpunkt, und es entstehen Töpfer- und Tanzgruppen. „Hüls lebt von Geschichten“, sagt Jochen Scheller und lacht: „Im Türmchen hat eigentlich jeder Hülser schon eine erlebt.“

Die Kids bestimmen im Türmchen selbst, wie sie ihren Tag gestalten möchten. Das offene Konzept soll Ressourcen stärken
Im Jahr 1991 kommt mit dem Sozialpädagogen die erste pädagogische Fachkraft in die Räumlichkeiten. Vom Verein initiiert und von der Stadt Krefeld teilweise mitgetragen, möchte der Krefelder das Konzept des Jugendzentrums ausbauen. In den Hülser Strukturen, die von starken Persönlichkeiten und langeingesessenen Leitfiguren geprägt sind, kommt Scheller zunächst nur schwer an. „Wenn man sich nähern will, muss man sich streiten“, erklärt der sympathische 61-Jährige. „Aber das ging relativ schnell. Mich hat das ehrenamtliche Engagement der Hülser gleichermaßen fasziniert und begeistert.“ Mit dem Anstoß der ersten Hülser Ferienspiele im Jahr 1991 läutet er eine neue Ära ein. Mit der Mithilfe diverser Ehrenamtler entsteht eine Mottoferienwoche, die für mehr als 150 Kinder und Jugendliche Spiel, Spaß und Spannung bietet. „Ich kann mich noch genau daran erinnern, dass wir uns für die ersten Ferienspiele ,Indianer‘ als Motto ausgesucht hatten. Die Ehrenamtlichen haben aus eigenem Antrieb heraus hundert perfekte Indianerkostüme für alle Kids genäht“, erklärt Scheller. „Das war der Wahnsinn. So ein Engagement hatte ich vorher noch nicht gesehen.“
Auch Anna Ladara, seit zwei Jahren Sozialpädagogin an Schellers Seite, ist damals mit dabei: Als Hülser Mädchen besucht sie das Jugendzentrum und engagiert sich ehrenamtlich. Sie wirkt beim ersten großen Tanzwettbewerb mit, den die Jugendlichen unter der Mithilfe der Betreuer organisieren, ist dabei, als ein Drache mit einer Flügelspanne von acht Metern in die Luft steigt, sie jubelt den Jugendlichen beim Improtheater zu und hilft beim Türmchen-Schützenfest mit. Nach ihrem Studium in Nimwegen beginnt sie als Vollzeitkraft. Der Weg dahin war steinig, denn eigentlich hatten die Stadt Krefeld und der Verein keine zweite Stelle im Hülser Treffpunkt vorgesehen „Die Jugendlichen selbst haben dafür gekämpft, mir eine feste Stelle hier zu schaffen“, erklärt sie. „Sie sind bis zur obersten Politik vorgedrungen und haben es am Ende geschafft. Darauf bin ich sehr stolz.“
Es ist eine Anerkennung, die von Herzen kommt, denn Ladara selbst unterstützt die Partizipation ihrer Schützlinge: Im Rahmen ihrer Bachelorarbeit hat sie mit den Jugendlichen ausgearbeitet, welche Träume und Pläne sie selbst für das Hülser Jugendzentrum mitbringen. Teilhabe, Nachhaltigkeit, Demokratie, Aktivität und Engagement sind die Kernthemen der Partizipationsgruppe, des „Tandem-Teams“. Infolgedessen schafft es das Türmchen, einen Gartenbereich für ein Jahr zu bekommen, den die Jugendlichen selbst bewirtschaften dürfen. Scheller und Ladara geben die Zügel aus der Hand: Die Heranwachsenden veranstalten Open-Air-Kino, pflanzen einen Gemüsegarten und organisieren Konzerte. „Auch hier haben wir ihnen die alleinige Aufsicht anvertraut, und wir waren bewusst nicht vor Ort“, erinnert sich Jochen Scheller. „Das war schon auch mit ein bisschen Anspannung verknüpft. Aber Kinder haben im Alltag keine Gelegenheit mehr, selbst zu gestalten. Wenn wir sie nicht freilassen, haben sie nie die Möglichkeit, sich auszuprobieren.“
Auch das jährliche „Halloweenhaus“ ist auf den Schultern der Jugendlichen entstanden: Mit Kunstblut, Gruselmasken, Stoffen, Vorhängen, Kostümen und allerlei Schnickschnack verwandelt sich das Türmchen zum Gruselkabinett. Während Scheller und Ladara im Büro sitzen und sich mit Absicht nicht vom Fleck bewegen, erschaffen die jungen Menschen ihr eigenes Paradies. „Natürlich zwickt es schon in den Fingern, bei so einer tollen Sache mitzumachen“, sagt die 29-Jährige und lacht. „Aber das tun wir eben nur, wenn die Jugendlichen uns aktiv um Mithilfe bitten.“
Anna Ladara und Jochen Scheller sind mit ihrer höhen pädagogischen Fachlichkeit die Stütze im Hintergrund: Sie füllen die Tinte, wenn der Stift leer ist, suchen nach Ausdrücken, wenn der Wortschatz erschöpft ist, sie bügeln die Seiten, wenn ein Unfall sie zerknittert hat, und sie sind Pläneschmieder, wenn sich die Ideen auf Papier nicht ordnen lassen. Die Rolle des Geschichtenschreibers haben sie aber bewusst abgegeben, denn hier im Türmchen sind es die Kinder und Jugendlichen, die ihr Buch selber schreiben.
Jugendzentrum Türmchen, Cäcilienstraße 15, 47839 Krefeld, Telefon: 02151 734864, www.tuermchen.de