„Dein großes K, Dein E, Dein V…“ Diese Liedzeile ist aus dem Königpalast nicht mehr wegzudenken. Voller Inbrunst wird sie aus 6.000 Kehlen vor jedem Heimspiel der Krefeld Pinguine geschmettert. Urheber dieser Zeilen ist Wolfgang Jachtmann. Der promovierte Mediziner hat mit diesem Song nicht nur den Fans eine Ode geschenkt, sondern sich selbst ein Exempel statuiert. Was im Kolosseum der Moderne allwöchentlich für Gänsehaut sogt, ist allerdings nur ein kleiner Baustein in Jachtmanns großem Mosaik des kreativen Schaffens. Wirft man einen Blick in die Diskographie des Hülser Urgesteins, glaubt man, er hätte seit frühester Jugend getextet, komponiert, gesungen und produziert. Tatsächlich aber begrenzt sich dieses Kapitel auf die vergangenen sieben Jahre. Alles Aufgestaute entlädt sich dieser Tage wie zurückgehaltenes Wasser durch ein Schleusentor. Das Fundament dieses Schleusentores bestand für Jahrzehnte aus Gehorsam, Pflichterfüllung und Verantwortung. Der Spalt, durch den heute das Wasser aus der Quelle der Inspiration dringt, öffnete sich erst im Angesicht des Todes.
Mit einem breiten Lächeln öffnet Wolfgang Jachtmann die Tür seiner Doppelhaushälfte gleich neben der alten Hülser Textilfabrik Lethen. Er sieht wieder einmal aus wie das blühende Leben, fast wie der fleischgewordene Muster-Entwurf eines Mannes im besten Alter. Seine von der Sonne leicht getönte Haut ist gut durchblutet, der Dreitagebart unterstreicht den kernigen Old Spice-Look. Er kocht Kaffee. Auf dem Tisch im Wohnzimmer liegt ein Bildband über Harley Davidson-Motorräder, daneben steht eine Gitarre. Seine vor einigen Jahren entdeckte Vorliebe für amerikanische Chopper als Anflug einer Midlife Crisis zu bezeichnen, würde dem 55-Jährigen beileibe nicht gerecht. Trotzdem befindet er sich derzeit in einer Phase, in der er vieles nachholt oder neu für sich entdeckt. Der Grund dafür ist allerdings nicht das aufkommende Bewusstsein über das Schwinden der eigenen Jugend.
„Mit dem Motorrad durch die USA zu fahren, war schon immer ein Traum von mir“, beginnt Jachtmann zu erzählen. „Letztes Jahr bin ich mit der Familie von der Ost- zu Westküste gefahren. Mit dem Motorrad will ich das unbedingt noch einmal wiederholen.“ Sich Wünsche zu erfüllen, der inneren Stimme zu folgen und kreativ zu sein, sind Kennzeichen eines zweiten Lebens, das es um ein Haar gar nicht gegeben hätte. 2009 galt Jachtmann als „austherapiert“. Ein Euphemismus für sterbenskrank. Sein Herz war am Ende. Er hatte Wasser in der Lunge. „Als mir die Ärzte damals sagten, ich solle mir die letzten Jahre so angenehm wie möglich gestalten, habe ich mich zum ersten Mal gegen eine Obrigkeit aufgelehnt. Das konnte ich einfach nicht akzeptieren“, erzählt er und schüttelt den Kopf. Es ist der unbedingte Lebenswille, der Jachtmann mit einer fast 50-jährigen Konditionierung brechen lässt. Und es ist mehr als nur ein gesundheitlicher Wendepunkt; es ist die Katharsis aus der eigenen Verblendung.
„Als mir die Ärzte damals sagten, ich solle mir die letzten Monate so angenehm wie möglich gestalten, habe ich mich zum ersten Mal gegen eine Obrigkeit aufgelehnt. Das konnte ich einfach nicht akzeptieren.“
„Ich war ein musisches Kind“, erzählt der Vater dreier Kinder mit Blick in die Vergangenheit. „Ich spielte Klarinette, Saxophon und ein wenig Klavier. Eigentlich wollte ich Musik studieren, doch dann wurde ich von der Bundeswehr eingezogen. Sich dieser staatlichen Anordnung zu widersetzen, wäre in meiner Familie undenkbar gewesen. So wurde ich verpflichtet und legte die Musik gedanklich ad acta.“ Jachtmann findet wider Erwarten sogar Gefallen am Wehrdienst, an der Kameradschaft und dem Gemeinschaftsleben. Auch seine Vorgesetzten erkennen in ihm einen guten Soldaten und wollen ihn unbedingt halten. „Man forderte mich auf, mir ein Gebiet auszusuchen, in dem ich mich als Zeitsoldat weiter ausbilden lasse. Nachdem man mich für die Pilotenlaufbahn als nicht tauglich einstufte, wählte ich die Ausbildung zum Sanitätsoffizier. Das Studium, die anschließende Arbeit auf den Stützpunkten und die Auslandseinsätze haben mir großen Spaß gemacht.“Wolfgang Jachtmann weiß den Moment der eigenen Hybris in der Retrospektive sehr genau zu benennen. Seinerzeit, als er Stück für Stück ins Unglück steuerte, habe er es allerdings bestenfalls geahnt. „Mir wurde die Möglichkeit einer Generalstabslaufbahn unterbreitet“, erzählt er mit in Falten gelegter Stirn, „ich glaube, das hätte mich sehr erfüllt. Aus familiären Gründen habe ich mich aber dagegen entschieden. Diesen Schritt bereue ich bis heute.“
Das darauf folgende Kapitel überschreibt Jachtmann selbst mit dem Titel „Plan B“. Plan B war die Gründung einer eigenen Arztpraxis in Hüls. Es sind nicht die Patienten, die ihn dabei unglücklich machen, es ist auch nicht der zurückgelassene Bundeswehrtraum, der in ihm gärt oder gar die zu dieser Zeit völlig verschüttete Musik-Facette. „Es war das Gesundheitssystem an sich, das mich verzweifeln ließ. Zu erkennen, dass man unter diesen Umständen nur unter großen Schwierigkeiten heilen kann, hat mich frustriert“, beschreibt er die damalige Situation. Eingebunden in das straff geschnürte Korsett der Verantwortung seiner jungen Familie und seinen treuen Patienten gegenüber macht er allerdings weiter. Bis ihm schließlich eine Mixtur aus genetischer Vorprägung und psychosomatischer Einflüsse 1998 den Wink mit der Blockhütte verpasst. „Wir waren auf einem Schiff in Holland, als ich plötzlich unglaubliche Schmerzen im Kiefer bekam. Im Krankenhaus in Zwolle konnte man allerdings im EKG nichts feststellen. Erst im Hülser Krankenhaus wurde der Vorderwandinfarkt erkannt und mit einem Stent behoben. Ich wusste schon vorher, dass mir so etwas passieren könnte. Mein Vater
starb mit 51 Jahren an einem Infarkt, mein Onkel gar mit 42“, erzählt Jachtmann mit Blick auf eine Leidenszeit, für die er seine innere Unzufriedenheit mitverantwortlich macht.
Es vergeht fast ein Jahrzehnt, in dem sich Hülser Arzt immer wieder seinen Kollegen anvertrauen muss. Aufkommende Gefäßverengungen werden erweitert, Stent um Stent wird eingesetzt, Bypässe retten ihm das Leben. In der Folge schließt Jachtmann seine eigene Praxis und arbeitet nur noch teilzeitig auf Vertretungsbasis, bis die Hiobsbotschaft des baldigen Ablebens den Wendepunkt seiner Biographie einläutet. „Ich habe mein Schicksal selbst in die Hand genommen und nach einem Arzt gesucht, der bereit war, mich noch einmal zu operieren. Nach langer Suche fand ich einen Professor im Schwarzwald, der auf hoffnungslose Fälle spezialisiert ist“, erzählt er ruhig und abgeklärt. Wegen der geringen Überlebenschancen sorgt er für den Fall der Fälle vor; schreibt sein Testament. Danach lässt er sich von seiner Mutter in die Klinik fahren. „Wenn man fast zehn Jahre an der Klippe des Lebens stand, dann hat man keine Angst mehr vor dem Tod“, sagt er beinahe lakonisch.
„Wir waren auf einem Schiff in Holland, als ich plötzlich unglaubliche Schmerzen im Kiefer bekam. Im Krankenhaus in Zwolle konnte man allerdings im EKG nichts feststellen. Erst im Hülser Krankenhaus wurde der Vorderwandinfarkt erkannt und mit einem Stent behoben. Ich wusste schon vorher, dass mir so etwas passieren könnte. Mein Vater starb mit 51 Jahren an einem Infarkt, mein Onkel gar mit 42“
In der mehrere Stunden dauernden Operation werden die bereits gesetzten Stents noch einmal mit Venenstücken aus seinem linken Unterschenkel überbrückt. Was in den Augen vieler Vertreter der Schulmedizin unmöglich erschien, gelingt. „Zehn Jahre wurden mir so geschenkt“, sagt Jachtmann und fasst sich an die linke Brust, in der nun insgesamt 13 Stents und sieben Bypässe sitzen. Es sollen zehn Jahre sein, die ihn erfüllen und beseelen. Eine Dekade, in der er das tut, was sein Herz ihm sagt. Deswegen kommt die Wiederaufnahme des Arztberufs nicht infrage. Die kurz nach der lebensrettenden Maßnahme erfolgte Berentung verschafft ihm auch finanziell die Möglichkeit, das zu tun, worauf er Lust hat. Das, was er vielleicht schon immer hätte tun sollen.
Es ist ein Musikprogramm, das die versiechte Ader der in der Kindheit so ausgeprägten Kreativität wieder aufbrechen lässt. „Ich hatte viel Zeit, mich neu zu orientieren, mich mit mir, meinen Wünschen und Bedürfnissen zu befassen – und dann ist mir dieses Programm in die Hände gefallen und hat alles in mir aufgestoßen, das so lange keine Rolle spielte“, sagt Jachtmann mit leuchtenden Augen. Diese Initialzündung löst eine kreative Explosion aus. Wie entfesselt tobt sich der inzwischen renommierte musikalische Tausendsassa seither in sämtlichen Genres aus. Mit „Trance d’ amour“ produziert er vor vier Jahren einen Sound, der an frühe Kraftwerk-Zeiten erinnert, als Texter und Komponist fördert er andere Künstler, und seiner Heimat Hüls widmet er gefühlt fast monatlich eine Komposition. Größen wie Evelyne Wenzel adeln Jachtmann als „kreatives Genie“. Wie groß die in ihm liegende schöpferische Kraft ist, zeigt Jachtmann allerdings auch abseits von Instrumenten und Tonstudios. Inzwischen ist er Autor eines Buches und geschätzter Kolumnist. Betrachtet man die immense Fülle seines kreativen Outputs, mag der Nachholbedarf eine Erklärung sein. Eine andere ließe sich in der damaligen Prognose seines Lebensretters finden.
„Bypässe werden aus Venen gemacht, um die Funktion von Arterien zu übernehmen. Leider sind sie aber völlig anders beschaffen und so beschränkt sich deren Lebensdauer tatsächlich auf ziemlich genau zehn Jahre“, erklärt der Mediziner die Krux seines Lebens fast so, als würde er nicht über sich selbst sprechen. „Sechs Jahre sind seit der Operation nun vergangen. Natürlich bin ich mir im Klaren darüber, was das bedeutet.“ Vor dem Hintergrund dieses Bewusstseins erscheint jeder Herzschlag wie ein Countdown, der Wert jeder Minute steigt ins Unermessliche. Jachtmann selbst bleibt allerdings völlig cool: „Ich glaube fest daran, dass es bei mir anders sein wird und ich auch über die zehn Jahre hinaus leben werde. Ich würde wohl verrückt werden, wenn ich hier säße und die ganze Zeit daran denke würde, was ich noch alles in der mir verbleibenden Zeit tun muss.“ Trotzdem bleibt eine Erkenntnis wie in Stein gemeißelt: Das Leben ist zu kurz, um nicht das zu tun, was dein Herz dir sagt! Und so darf sich Krefeld wohl auf viele weitere kreative Ergüsse freuen; ob als Buch, Kolumne oder Lied für die Pinguine.