Ein Tag im Leben von Schaustellerkind Josef Kreuz (14)
Es ist Freitagmorgen, 7 Uhr, auf dem Sprödentalplatz in Krefeld. In einem sechs Meter langen modernen Wohnwagen zwischen Grillhütte, Popcornstand und Kinderkarussell wacht Josef Kreuz (14) zusammen mit seinem Bruder Michael (12) auf. Am liebsten würde er sich noch einmal umdrehen, denn sein Abend war lang. Der „Glücks-Shop“ seiner Eltern schloss um 23 Uhr. Danach half Josef noch beim Einräumen der Gewinne: lebensgroße Tiger, pinke Flamingos, Bluetooth-Lautsprecher und Rennautos. Jetzt heißt es frühstücken, Rucksack packen und ab zur Schule. Um 8 Uhr ist Unterrichtsbeginn in der Stephanus-Hauptschule.
Noch ein freundlicher Klaps für Familienhund Hugo und ein kurzes Winken zu den Eltern. Auf dem Weg, vorbei an Autoscooter, Breakdancer und Riesenrad, trifft Josef seine Mitschüler. Sie sind vier von zehn Kindern, die während der Herbstkirmes in umliegenden Grund-, Haupt- und Gesamtschulen unterrichtet werden. Schaustellerkind Joyce (15) reist zurzeit mit ihrer Tante und hilft an deren Stand beim Dosenwerfen, die Eltern von Céline (14) verkaufen Pommes, und Saimen (13) begleitet seine Eltern, die den „Früchtetraum“ betreiben. Die Kinder kennen sich, weil sie viele Kirmessen, Volksfeste und Weihnachtsmärkte gemeinsam besuchen. Ende September waren sie in Eitorf bei Hennef; Mitte Oktober ging es weiter nach Lippstadt.

„Juniorchef“ Josef Kreuz: „Am liebsten bin ich draußen auf dem Platz. Dann helfe ich meinen Eltern oder besuche meinen Freund am Autoscooter.“
20 bis 30 Volksfeste fahren Josef, Joyce, Céline und Saimen mit ihren Familien im Jahr an. Sieben bis acht Monate sind sie deshalb nicht zuhause und können somit auch nicht ihre Schule vor Ort besuchen. Josefs Stammschule ist eine Sekundarschule in Euskirchen, denn er lebt mit seinen Eltern, Onkel, Tante und Großeltern im nahegelegenen Weilerswist. Alle Familienmitglieder sind Schausteller, aber zum Bedauern von Josef trifft man sich nicht allzu oft bei denselben Veranstaltungen. In der reisefreien Zeit zum Jahresende kommen aber alle auf dem heimischen Hof zusammen. Dann werden in der familieneigenen Kfz-Werkstatt die Wohnwagen und Fahrgeschäfte repariert und überholt, aber auch Fremdfahrzeuge gewartet.
Jetzt, in der Reisezeit, beim Stopp auf der Krefelder Herbstkirmes, trifft Josef immerhin seine mitreisenden Freunde. Zwei Bereichslehrer der Bezirksregierung Düsseldorf empfangen die Schaustellerkinder morgens um 8 Uhr in der sogenannten Stützpunktschule. Malte Wagneraus Krefeld und Anke Tillmann aus Moers haben für ihren Unterricht einen Klassenraum im Untergeschoss der Stephanus-Hauptschule an der Rote-Kreuz-Straße, ganz in der Nähe des Sprödentalplatzes, zur Verfügung gestellt bekommen. Das Mobiliar ist spartanisch und veraltet, der Unterrichtsstoff dafür up to date.
Deutsch, Mathe und Englisch sind die Schwerpunktfächer
Vor Josef liegt „The big American Quiz“ – ein Quiz in englischer Sprache, das durch Bilder und Multiple Choice-Fragen anschaulich die amerikanische Geschichte vermittelt. Im Deutschunterricht ist gerade Groß- und Kleinschreibung dran, und in Mathe die Berechnung von Termen und Gleichungen. Saimen beschäftigt sich ebenfalls mit Termen, Céline lernt Englisch und Joyce Mathe. Auch Klassenarbeiten werden unterwegs geschrieben. Josef hat gerade eine Englischarbeit mitgeschrieben, die Anke Tillmann seiner Stammschule in Euskirchen zuschickt.
Reisende in Sachen Schule: die Bereichslehrer für Kinder beruflich Reisender, Malte Wagner und Anke Tillmann
„Bereichslehrer müssen Generalisten sein. Sie sind meist Grundschul-, Hauptschul- oder Förderschullehrer.“
Die Bereichslehrerin für Krefeld und den Kreis Viersen erklärt, wie der Unterricht funktioniert: „Jeder Schüler wird nach seinem individuellen Lernstand, den uns seine Stammschule mitteilt, unterrichtet. Uns hilft außerdem das Schultagebuch für Kinder beruflich Reisender. Es ist ein in allen Bundesländern verbindliches Dokument zum Nachweis des Lernfortschritts und Kompetenzen-Erwerbs, das alle Lehrer ausfüllen, die die Schüler unterwegs unterrichten. Es enthält auch die Lernpläne der Stammschule. Aufgrund von Reisetagen, an denen die Kinder keine Schule besuchen können und oftmals sehr individueller Ausnahmen, fallen immer mal wieder Fehlstunden an, weshalb der Schwerpunkt auf den Hauptfächern Deutsch, Mathematik und Englisch liegt. Pflicht sind zwischen 21 und 34 Wochenstunden von der Grundschule bis zur 10. Klasse.“
Ein besonderer Lehrauftrag, wie der an Schaustellerkindern, bedarf auch besonderer Pädagogen. „Bereichslehrer müssen Generalisten sein. Sie sind meist Grundschul-, Hauptschul- oder Förderschullehrer. Im Bereich der Bezirksregierung Düsseldorf sind wir mit sieben Kollegen sehr gut aufgestellt und prima miteinander vernetzt“, ergänzt Malte Wagner,der heute ausnahmsweise aushilft, aber hauptsächlich Kinder beruflich Reisender in Oberhausen, Essen und Mülheim betreut. „Auch wir Lehrer sind somit Reisende in Sachen Schule“ schmunzelt er.
Doppelbelastung: Schule und Kirmesjob
Es ist 13.30 Uhr Die Schulglocke läutet schrill. Für die meisten Kinder an der Stephanusschule heißt das „Feierabend“. Für die Schaustellerkinder aber geht oftmals die Arbeit auf dem Kirmesplatz weiter. „Ich muss gleich eine LED-Lieferung prüfen“, sagt Josef Kreuz wie selbstverständlich; er wirkt regelrecht abgeklärt. Über den noch menschenleeren Kirmesplatz macht er sich auf den Heimweg. Am Glücks-Shop steht bereits der Karton mit Leuchtmitteln, die bei der Überholung des Fahrgeschäfts im Winter eingesetzt werden müssen. Josef prüft jede einzelne Lampe und beginnt danach, zusammen mit einer Mitarbeiterin, sämtliche Gewinne in der Bude zu platzieren und die Losbehälter zu bestücken. „Das Besondere am Glücks-Shop ist, dass es keine Nieten gibt, sondern man Sterne sammeln muss“, erläutert er stolz, und man könnte meinen, dass er in einer Stunde, wenn sich der Kirmesplatz langsam füllt, in locker-lässiger Kirmesmanier die Gewinne anpreist. Doch weit gefehlt. „Rekommandieren mache ich nicht so gerne“, gibt er zu und schiebt hinterher: „Am liebsten helfe ich meiner Mutter an unserem Churros-Stand.“ Was nach Schlaraffenland klingt, wo einem die süßen in Schokolade getauchten Brandteigstangen förmlich in den Mund wachsen, ist für Josef Alltag. Oft kommt er nicht vor Mitternacht ins Bett. Die Doppelbelastung aus Schule und Verantwortung im Betrieb spricht aus seinem Gesicht. Mit gerade mal 14 Jahren gehört Josef Kreuz in der 8. Generation bereits zu einem kleinen Wirtschaftsunternehmen, das er irgendwann übernehmen wird. Das beweist auch zukunftsträchtig das traditionelle Schild am Fuße des Glücks-Shops: „Kreuz und Söhne“.